Ruth grummelte vor sich hin, wie in den letzten Jahren immer häufiger: „Das ist nichts mehr für meine 85-jährigen Knochen, ich sollte zuhause in meinem Sessel sitzen“ und betrachtete gleichzeitig völlig fasziniert die fremde Lanschaft, die an ihr vorbeizufliegen schien und fand sich immer noch besser als Elisabeth, ihre Freundin, die neben ihr saß, ein junger Hüpfer von 75 war und ständig rumjammerte, dabei genoss sie – genau wie Ruth – eigentlich jede Sekunde dieser aufregenden und so unverhofften Reise.
Wer hätte aber aber auch gedacht, dass nach 70 Jahren ohne je etwas gewonnen zu haben, nun auf ihre alten Tage gleich eine Chinareise ihr Preis wäre und dass sie diese antreten würde hatte eh niemand geglaubt.
Aber warum eigentlich, nur weil sie alt war, was glaubten die eigentlich alle, sie hatte den zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit, die Währungsreform, zwei Ehemänner und all die anderen Stürme des Lebens überstanden, da würde sich Ruth doch nicht vor einer kleinen Reise bangemachen lassen.
Außerdem hatte sie in erster Linie gewonnen, weil sie schon so alt war, denn außer ihr hatte bei der Eröffnung des schicken neuen Reisenüros nun mal keiner das Ahornblatt erkannt, manchmal musste man der Jugend eben doch zeigen, wo der Hammer ist.
Nun näherte sich der Bus mit ihrer Reisegruppe langsam dem heutigen Tagesziel, der Chinesischen Mauer, nachher würden sie da oben auf der Mauer lang spazieren, sie würden Fotos machen und hinterher im Shop Karten kaufen, Ruth sonnte sich im Gedanken an ihren sauertöpfischen und leicht bornierten Neffen, der mit aller Kraft versucht hatte ihr die Reise abzuschwatzen, angeblich, weil sie in ihrem Alter zu gefährlich sei, in Wirklichkeit natürlich, weil er meinte, sie würde ihm, dem jungen Mann, zustehen, neidisch war er und beim Gedanken an sein Gesicht, als sie gesagt hatte: „Sterben kann ich überall“, musste Ruth wirklich lachen.
Pustekuchen, dass ist ihre Reise und trotz ihres gelegentlichen Meckerns würde sie jede Sekunde genießen, was war China aber auch interessant, den Blick konnte man endlos schweifen lassen über die satt grünen Teeplantagen, dann die Märkte mit all den exotischen Düften und das wuselig bunte Treibe, die überaus freundlichen Menschen, die zu ihr alter Frau nochmal netter waren, Li ihre Reiseleiterin hatte gesagt, in China habe man große Hochachtung vor dem Alter, ja Ruth war glücklich hier zu sein.
Nur eine Sache gab es, die ihr nicht gefiel und das waren die vielen Insekten allerorts, ständig hatte Ruth das Gefühl, dass sie an ihr krabbeln, bäh, aber egal, nun wachte auch Elisabeth auf und sie richteten ihre Siebensachen und nahmen ein winzigen Schlückchen von diesem köstlichen Likör aus weißem Tee, die alten Knochen wollten ja schließlich geölt werden.
Die abc-Etüden
- Wortspende: Elke H. Speidel)
- Gehostet von Christiane
- Illustration wie jede Woche von Ludwig Zeidler
Die Regeln
Drei vorgegebene Wörter in maximal 10 Sätzen zu einer Geschichte verarbeiten.
Die Wörter
Ahornblatt
Chinareise
krabbeln
Liebste Grüße
Ela
Sie hatte gewonnen, weil sie schon so alt war. So muss man das sehen, ganz hervorragend, vielen Dank!
Liebe Grüße
Christiane, die sich gerade sehr amüsiert
LikeGefällt 1 Person
Dankesehr
LikeGefällt 1 Person
Tolle Frau – absolut richtig, dass sie sich die Reise nicht hat abschwatzen lassen. Sehr schön.
LikeGefällt 1 Person
Das finde ich aber auch 😉
LikeGefällt 1 Person